EINBUCH 3 | Das Gruseln
Miba Eisbraun | EINBUCH 3 1 von 1
Das Gruseln
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D A S G R U S E L N
Er dachte gerne an seine Kindheit. In einer großen Altbauwohnung hatten sie gewohnt. In einem hohen Zimmer war die Bibliothek gelegen. Sein Großvater hatte okkultistische Bücher gesammelt. Fast täglich hatte er ihm Geistergeschichten vorgelesen. Der Bub hatte früh das Gruseln gelernt. Er war süchtig geworden nach diesem Gefühl. In der Nacht hatte er sich nicht aufs Klo getraut. Sein Zimmer war am anderen Ende der Wohnung gelegen. Der finstere Gang war lang gewesen. Aus den Kästen hatten Hände nach ihm gegriffen. Im Ofen hatte er irrende Seelen gehört. Eine geballte Wolke war durch die Räume geschwebt. Ein Schuh war im Mondlicht gewandert. Die Großeltern hatten von Wahrträumen berichtet. Der Großvater hatte vom Einsturz einer Brücke geträumt. Tags darauf war in Wien die Reichsbrücke eingestürzt. Über die war der Großvater in den ersten Weltkrieg gezogen. Großvater hatte Anima am Bettrand gesehen. Sie soll auch zu ihm gesprochen haben: „Ich werde dich begleiten!“ Gegenstände waren für immer verschwunden. Eine Uhr war stehen geblieben. Die alte Frau in der unteren Wohnung war im selben Moment tot gewesen. Eine Faust hatte auf die Herdplatte geschlagen. Eine Verwandte war gestorben zu dieser Zeit. Im Buben hatte der Großvater ein Medium gesehen. Als Schüler hatte dieser auch den Himmel beobachtet. Dabei hatte er unerklärliche Erscheinungen beobachtet. Es gab auch Zeugen dafür.
Jahrzehnte waren seitdem vergangen. Die Welt hatte sich verändert. Das Gruseln des einst so wohlig Schaudernden auch. Es war nicht mehr da. Im heute reifen Herrn lebte nur die Erinnerung danach. Aus ihr wuchs die Sehnsucht nach etwas Verlorenem.
Erst suchte er das Gruseln in seiner nächsten Umgebung. Die Wohnung der Großeltern gab es nicht mehr. Die alte Bibliothek war ebenfalls verkauft. In Antiquariaten stöberte er nach den Büchern der Kindheit. Die wenigen gefundenen las er. Er spazierte durch die Nacht. Er wanderte zu Ruinen. Er ging zu unheimlichen Menschen. Er begab sich zu Sterbenden. Das Gruseln blieb aus. Ein Getriebener war aus ihm geworden.
Schließlich suchte er auf der ganzen Welt nach dem verlorenen Gefühl. Er besuchte zahlreiche Orte des Schreckens. Darunter waren Gedenkstätten wie Konzentrationslager. Auf Friedhöfen spürte er gar nichts. In die verruchtesten Burgen und Schlösser reiste er. In aufgelassenen Spitälern saß er stundenlang am Boden. Wochenlanger Einsamkeit setzte er sich aus. An Orte fürchterlichster Prozesse begab er sich. In Gefängnisse und Verhörkeller trieb es ihn. Über Schlachtfelder wandelte er im Mondschein. In psychiatrischen Kliniken fahndete er nach dem Gruseln. Bei Urvölkern hoffte er es wieder zu finden. Sogar zu den Wölfen in die Wälder lockte ihn sein Verlangen. Und letztlich stieg er in die Tiefen seines Selbst. Vergeblich! Das alte Gefühl blieb verschollen!
Ein weißhaariger Herr war aus ihm geworden. In seinen Augen flackerte immer noch das Feuer der Sehnsucht. Im Gruseln sah er den Schlüssel zu seiner verlorenen Kindheit. Sein halbes Leben hatte er mit seiner Suche danach verbracht. Er war einsam und seltsam geworden darüber. Ein einziges Mal meinte er es wieder zu spüren: Auf einer Alm in einer Sommernacht. In der Ferne wetterleuchtete es. Über ihm spannte sich dieser bedrückende Sternenhimmel. Und irgendwann fuhr er nach Rom. Im Kolosseum stand er. Es war Mittag. Um ihn herum waren unzählige Touristen. Was war hier alles geschehen?! Und dennoch waren keine Geister da! Nichts mehr war da außer dem Bauwerk! Die Vergangenheit hatte keine Schatten! Ihn schauderte zutiefst. Ihn gruselte erst wieder über dieser Erkenntnis.
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© Miba Eisbraun 2011
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